Der Fall Erdogan by Sevim Dagdelen
Autor:Sevim Dagdelen [Dagdelen, Sevim]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Westend Verlag
veröffentlicht: 2016-09-20T22:00:00+00:00
10 Die ökonomische Achse Berlin-Ankara
Wenn der CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder sich vor die Bundeskanzlerin stellt, um das Abwiegeln und Wegducken zu rechtfertigen, spielen sowohl der Flüchtlingsdeal, gekoppelt an die sechs versprochenen EU-Milliarden für Erdogan und die verheiÃene Visafreiheit, als auch das geopolitische Interesse an der Türkei innerhalb der NATO-Partnerschaft eine entscheidende Rolle. Doch auch die engen Wirtschaftsbeziehungen beider Länder sowie die Bedeutung der Türkei als Markt und für den Kapitalexport deutscher Unternehmen sind ein nicht zu unterschätzender Grund für die devote Haltung der Bundesregierung. Die guten Profite deutscher Konzerne in der Türkei will Berlin selbstverständlich nicht gefährden. Auf der anderen Seite ist gerade der Kapitalexport deutscher Unternehmen entscheidend für das Wirtschaftsmodell der AKP gewesen â und er ist es noch. Bei allen Lobpreisungen über das Wachstum des türkischen Bruttosozialprodukts in den vergangenen Jahren wurde im Westen gern übersehen, dass dieses Modell auf tönernen FüÃen steht. Dabei konnte man zwar auf eine geringe Verschuldungsrate in Höhe von nur dreiÃig Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bauen, die strukturellen Probleme sehen allerdings nicht anders aus als in den angeschlagenen Volkswirtschaften Südeuropas. So ist die türkische Wirtschaft geprägt durch ein massives Handels- und Leistungsbilanzungleichgewicht von 4,4 Prozent des BIP jährlich. Weltweit im Vergleich der Hitliste der Handelsdefizite kommt die Türkei auf einen stolzen 5. Platz mit einem Handelsminus von 63,3 Milliarden US-Dollar.
Diese Schlagseite des hohen Wirtschaftswachstums konnte Ankara nur ausgleichen durch die Privatisierung der Daseinsvorsorge und vormals staatlicher Produktions- und Dienstleistungszweige. Diesen Ausverkauf bezeichnete nicht nur Erdogan als das wirtschaftliche Erfolgsmodell der Türkei. Im April 2016 erklärte er: »Als wir im Jahr 2002 an die Macht kamen, herrschte in der Türkei der Etatismus. Wir haben dieses Verständnis beiseitegelegt und uns darum bemüht, den Privatsektor zu stärken. Nachdem der Staat sich von der Wirtschaft fernhielt, gab es einen groÃen Aufschwung. Wir haben Privatisierungen verwirklicht, die es in der Geschichte der Türkei nicht gegeben hat.« In diesem Punkt hat er ausnahmsweise einmal nicht übertrieben.
Nachdem die AKP die Regierung übernommen hatte, verordnete sie dem Land einen neoliberalen Schub, der bis heute noch nicht beendet ist. Allein in den sieben Jahren von 2002 bis 2009 verkauften die türkischen Regierungen frühere Staatsunternehmen im Wert von 28,5 Milliarden US-Dollar â mehr als das Dreieinhalbfache der Privatisierungen in den 16 Jahren zuvor. In einem »Notfallaktionsplan« machte Erdogan mit seinen Ministern im Jahr 2003 klar, dass sich der türkische Staat auf Kernbereiche wie Bildung, Gesundheit, das Justizwesen und den Sicherheitsbereich beschränken werde.
Vor allem türkische Privatkonzerne sind seit Anbeginn der AKP-Regentschaft durch günstige Privatisierungen ehemaliger Staatskonzerne stark gewachsen. Die Koc-Gruppe, eines der gröÃten privaten türkischen Familienunternehmen, die stark exportorientiert ist und weltweit über 85 000 Mitarbeiter beschäftigt, riss sich 2005 den staatlichen Erdölkonzern Türpas unter den Nagel. Aber auch ausländische Konzerne sind nicht zu kurz gekommen. General Electric etwa erwarb über 25 Prozent an der Turkiye Garanti Bankasi, der gröÃten türkischen Bank. Die Deutsche Bank kaufte das Wertpapieraufbewahrungs- und Abwicklungsgeschäft der Garantiebank. Zwanzig Prozent der Akbank wiederum gingen an die Citigroup. Flankiert wurde diese Privatisierungsstrategie von der EU-Kommission und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE).
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